„Schlossgeschichten.“ Exkursion zu den wiederaufgebauten Königsschlössern in Poznań und Berlin
Im Rahmen der Übung "Schlossgeschichten" unter der Leitung von Dr. Karsten Holste, haben wir Studierende der Masterstudiengänge Geschichte und Interdisziplinäre Polenstudien uns mit dem Sinn und Unsinn des Wiederaufbaus der Schlösser in Poznań (Posen) und Berlin beschäftigt. Parallel dazu fand eine Lehrveranstaltung zum selben Thema am Germanistischen Institut der Adam-Mickiewicz-Universität in Poznań unter Leitung von Frau Dr. Dominika Gortych statt. Bevor die Frage geklärt werden konnte, wofür der Wiederaufbau der zwei Schlösser steht und welche Bedeutung sie im Berliner bzw. Posener Stadtensemble einnehmen sollen, haben wir uns zunächst mit den theoretischen Ansätzen des Erinnerungsorts und Gedächtnisimplantats auseinandergesetzt.
Als Diskussionsgrundlagen konnten wir erarbeiten, dass sich nach Pierre Nora das kollektive Gedächtnis sozialer Gruppen an bestimmten Orten kristallisiert. Solche Erinnerungsorte sind als Bezugspunkte prägend für die jeweilige Erinnerungskultur. Sie haben unterschiedliche konkrete Manifestationen: Geographische Orte, historische Ereignisse, mythische Gestalten, Institutionen, Begriffe, Bücher, Kunstwerke etc. Erinnerungsorte besitzen eine besonders aufgeladene symbolische Bedeutung mit identitätsstiftender Funktion für bestimmte gesellschaftliche Gruppen. Als "Gedächtnisimplantat" hingegen lassen sich nach Marian Golka nachträgliche und post factum kreierte Bauten, Schriften, Bilder oder Filme, sowie Wissens- und Bewusstseinsinhalte bezeichnen, die vermeintliche Mängel des sozialen Gedächtnisses beheben und vermeintlich verlorene Inhalte wiederherstellen oder sogar in einer Form erschaffen sollen, die zur aktuellen Politik der Gemeinschaft oder zu deren aktuellen System an Interessen, Werten und Zielen passen. Ausgehend von Aleida Assmanns Begrifflichkeiten lässt sich festhalten, dass Erinnerungsorte auf historische Ereignisse Bezug nehmen, die dauerhaft im Funktionsgedächtnis einer sozialen Gruppe verankert sind. Gedächtnisimplantate überführen hingegen nur noch im Speichergedächtnis vorhandene Inhalte gezielt in das Funktionsgedächtnis.
Unter Rückgriff auf diese theoretischen Konzepte konnten wir gemeinsam mit unseren polnischen Kommilitoninnen und Kommilitonen über den Wiederaufbau der Königsschlösser in Poznań und Berlin diskutieren.
Am Freitag den 20. November 2015 machten wir uns von Halle aus auf den Weg nach Poznań. Bei unserer Ankunft wurden wir herzlich von Frau Dominika Gortych und deren Studierenden empfangen. Nach einer kurzen Vorstellung aller Teilnehmenden, brachen wir zu einem Stadtrundgang auf, in dessen Rahmen wir zu einzelnen Sehenswürdigkeiten Kurzreferate vorbereitet hatten. Die Leitung übernahm Herr Łukasz Skoczylas vom Institut für Soziologie der Adam-Mickiewicz-Universität Poznań, der sich wissenschaftlich mit der Problematik von Gedächtnisimplantaten im Stadtbild und der Geschichtskultur Poznańs auseinandergesetzt hat. Bei diesem Stadtrundgang besichtigten wir die unterschiedlichen Zeugnisse der deutschen und polnischen Geschichte der Stadt wie zum Beispiel das ehemalige preußische Königsschloss (heute Kaiserschloss genannt), die Gebäude der ehemaligen Ansiedlungskommission (heute ein Teil der Universität), den Marktplatz mit Rathaus und dem Jesuitenkolleg, um nur einige Stationen zu nennen. Nach dieser informativen aber anstrengenden Tour hatten wir für den Abend frei und so entschlossen wir uns die einheimische Küche auszuprobieren. So genossen wir zum Abschluss des letzten Tages lecker gefüllte Piroggi.
Am zweiten Tag war unser erster Anlaufpunkt Poznańs Ursprung, die Dominsel. Bei unserem Besuch der interaktiven historischen Ausstellung (Brama Poznania - Posener Tor), konnten wir die bewegte Geschichte Poznańs aus einer anderen Perspektive kennenlernen. Gemeinsam mit den polnischen Studierenden diskutierten wir kontrovers über das Konzept einer Ausstellung ohne "originale" Objekte. Anschließenden sollten wir dem Zielpunkt unserer Exkursion erstmals ganz nah kommen, dem neu errichteten polnischen Königsschloss. Gelegen auf dem Przemysław Hügel soll es als polnischer Gegenentwurf zum sogenannten Kaiserschloss aus preußischer Zeit dienen. Der Schlosswiederaufbau begann erst im Jahre 2010 und Quellen, wie das Schloss einst ausgesehen hat, sind bis auf einen einzigen groben Kupferstich nicht vorhanden. Wir waren darüber enttäuscht, dass man es nicht von innen besichtigen konnte, da bis heute ein Nutzungskonzept fehlt.
Anschließend diskutierten wir gemeinsam mit Herrn Skoczylas, Herrn Holste und Frau Gortych in gemischten deutsch-polnischen Gruppen über das Konzept des Gedächtnisimplantats und seine Anwendbarkeit auf den Schlosswiederaufbau. Die Diskussionsergebnisse wurden für alle in kurzen Präsentationen aufbereitet und zum Abschluss noch einmal gemeinsam über das pro und contra des Wiederaufbaus gesprochen. Bei Kaffee und Kuchen haben wir gemeinsam mit den polnischen Studierenden den Tag und unseren Aufenthalt in Poznań ausklingen lassen.
Unsere Exkursion nach Berlin, drei Wochen nach unserer Rückkehr aus Poznań, begann mit einer hauptstadt-typischen Begrüßung an der Rezeption unseres Hostels. Von dort aus brachen wir zu einer Erkundung der Überreste des mittelalterlichen Berlins rund um das schöne Nikolaiviertel auf - natürlich wieder kundig angeleitet von Kommilitonen, die Vorträge vorbereitet hatten. Am Abend kam dann auch unsere polnische Partnergruppe in Berlin an und alle trafen sich unter den weihnachtlichen Linden, von wo aus wir zur Besichtigung des Brandenburger Tores, der umliegenden Mahnmale und des Reichstagsgebäudes aufbrachen.
Der Samstag stand ganz im Zeichen des Berliner Stadtschlosses über dessen Wiederaufbau wir im direkt gegenüber der Baustelle gelegenen ehemaligen Marstall diskutierten. Die Landesgeschichtliche Vereinigung für die Mark Brandenburg hatte uns dankenswerterweise ihre Räumlichkeiten zur Verfügung gestellt. Sowohl dort als auch bei einem Rundgang um das im Bau befindliche Humboldtforum erhielten wir von dem Kunsthistoriker Dr. Guido Hinterkeuser, Autor einer Vielzahl von Publikationen zur Baugeschichte des Schlosses, sehr viel Input und jede erdenkliche Information über das alte Schloss und seinen Neubau. Auch diesmal widmeten wir uns in Gruppenarbeiten und Diskussionen der Geschichte des Schlosses und den widerstreitenden Positionen in der Wiederaufbau-Debatte. Das entwickelte sich gegen Ende hin jedoch zu einem beeindruckenden Wettstreit um unsere Aufmerksamkeit zwischen Herrn Holste, Herrn Hinterkeuser und unserem Gastgeber, Herrn Dr. Peter Bahl. Mit einem Glühwein auf dem Weihnachtsmarkt am Gendarmenmarkt wurde der Tag gemütlich abgerundet.
Am Sonntag blieb noch etwas Zeit und wir entschieden uns zunächst für einen Besuch der in der Nähe des Hostels gelegenen Neuen Synagoge in der Oranienburger Straße, deren Zerstörung bewusst nur zum Teil durch Rekonstruktion behoben wurde. Anschließend besichtigten wir die Humboldtbox am Stadtschloss, in der wir zum Abschluss einen multimedialen und dreidimensionalen Eindruck von der künftigen inneren und äußeren Gestalt des Gebäudes erhalten konnten.
Als Ergebnis beider Exkursionen und der belgleitenden Diskussionen lässt sich festhalten, dass das Königsschloss in Poznań ohne Zweifel als Gedächtnisimplantat bewertet werden kann. Das Schloss wurde bereits im 17. Jahrhundert zerstört, es existieren kaum Quellen über seine frühere Gestalt. Das Gebäude, wie es seit 2010 aufgebaut wurde, ist den wenig vorhanden Quellen auch nicht getreu nachkonstruiert worden und somit ein Neubau, der in dieser Art vorher nicht existierte. Die architektonische Gestalt des ursprünglichen Schlosses war aus dem kollektiven Gedächtnis der polnischen Bevölkerung und der Posener Bürger weitgehend verschwunden. Somit ist der Versuch der Einschreibung des Schlosses in das aktuelle kollektive Gedächtnis, die mit der Diskussion um den Wiederaufbau begann, ein Gedächtnisimplantat. Das alte Königsschloss wird durch seinen Neubau aus dem Speichergedächtnis in das Funktionsgedächtnis verlagert, um einen Teil vergessener polnischer Geschichte Poznańs wieder in das kollektive Gedächtnis zu bringen. Der (Wiederauf-)Bau soll unter anderem dazu dienen sich von der preußischen Herrschaft über Poznań abzugrenzen, aus deren Zeit ein von den Preußen gebautes Schloss in der Stadt steht, welches noch gut erhalten ist und intensiv für kulturelle Veranstaltungen genutzt wird. Außerdem soll der (Wiederauf-)Bau Poznańs Bedeutung als Königsstadt in Konkurrenz zu anderen großen polnischen Städten wie Warschau und Krakau unterstreichen. Schließlich soll das Schloss den Stadtkern aufwerten, auch wenn bis heute kein Nutzungskonzept für das Schloss vorhanden ist. Es bringt sich bis heute lediglich durch sein äußeres Erscheinungsbild ins Stadtbild und ins kollektive Gedächtnis ein. Trotz der Problematik eines solchen baupolitischen Eingriffs in das kollektive Gedächtnis, fanden wir ein paar Punkte die für den Bau sprechen könnten. Das Schloss stellt einen optischen Mittelpunkt im Stadtkern dar und das Tourismuskonzept der Stadt in Form einer königlich-kaiserlichen Route wird abgerundet.
Das Berliner Stadtschloss kann hingegen durchaus als Erinnerungsort bezeichnet werden. Zweifellos ist es noch im kollektiven Gedächtnis eines Teiles der Berliner Bevölkerung vorhanden, nämlich jener, die sich an das Schloss vor seinem Abriss 1950 erinnern können. Die Frage, ob es sich beim Wiederaufbau um ein Gedächtnisimplantat handelt oder nicht, ist hingegen weniger leicht zu beantworten.
Der wohl wichtigste Aspekt, der für das Schloss als Implantat spricht, ist jener der Überlagerung. Nach dem Abriss entstand an gleicher Stelle der Palast der Republik, als kulturelles und politisches Zentrum der DDR. Um das Berliner Stadtschloss wieder aufbauen zu können, musste dieser 2006 abgerissen werden. Anstelle der Erinnerung an die DDR entschied man sich also für jene der preußisch-deutschen Geschichte. Im Zuge dessen befürchtete man eine Anknüpfung an imperialistische Symboliken. Eine Sorge, die allerdings durch die Benennung Humboldtforum und das spätere Nutzungskonzept als ethnologische Ausstellung entkräftet wird. Als solches würde das Berliner Stadtschloss nicht nur architektonisch eine enorme Bedeutung für die Hauptstadt haben, fügt es sich doch nahtlos in das kulturelle Zentrum der Stadt am Rande der Museumsinsel ein. Dennoch stellt sich die Frage, warum sich gerade von Seiten der Politik, die sich 2002 für den Wiederaufbau stark gemacht hatte, für den historischen Neubau und gegen eine moderne Bebauung ausgesprochen wurde. Gründe dafür dürften vermutlich der fehlende Mut als auch die Sorge vor einer neuen Bebauung gewesen. Es wäre schwer gewesen, einen modernen Bau zu finden, der sich in das Bild des historischen Stadtkerns einfügt. Hinzu kommt der Vorteil, dass das Berliner Stadtschloss durch zahlreiche Abbildungen (von denen uns ein Teil von Dr. Hinterkeuser präsentiert wurde) äußerst gut dokumentiert ist. Zusammen mit dem Fakt, dass das Schloss noch im kollektiven Gedächtnis verankert ist, hätte sich jeder Neubau, modern oder nicht, mit dem Berliner Stadtschloss messen müssen. Diese Aspekte sprechen insgesamt für einen Wiederaufbau.
Abschließend gilt unser Dank der Deutsch-Polnischen Wissenschaftsstiftung für die großzügige Förderung der beiden Exkursionen, dem Germanistikinstitut der Adam-Mickiewicz-Universität und schließlich der Landesgeschichtlichen Vereinigung der Mark Brandenburg für die Bereitstellung der Seminarräume.
AutorInnen: Arne Brodersen, Anne Büchle, Sahra Ernst, Antje Hilmer, Anne Mann, Philipp Schinschke, Christine von Bose, Freda Juliane Wenzel, Antje Wilke