Übung und Exkursion Bachelor Geschichte (Halle) und Master Interdisziplinäre Polenstudien (Halle/Jena) nach Wschowa und Leszno vom 23.10. bis 25.10.2015
Im Sommersemester 2015 fand für Studierende im Bachelorstudiengang Geschichte und im Masterstudiengang Interdisziplinäre Polenstudien eine Lektüre-Übung mit Quellen zur polnischen Geschichte des 18. Jahrhunderts mit anschließender Exkursion statt. Diese wurde vom Kulturreferat des Bundes für Westpreußen geförderter. Nach der Diskussion einführender Texte zur (kirchen-)politischen Situation in Polen-Litauen zwischen 1700 und 1750 sowie zur zeitgleichen Entwicklung des Pietismus in Halle begann die Lektüre von zeitgenössischen Briefen aus Polen. Dabei konnten wir auf die reiche Briefsammlung im Archiv der Franckeschen Stiftungen zurückgreifen. In dieser finden sich unter anderem Briefe aus der damals nahe der schlesischen Grenze gelegenen polnischen Stadt Fraustadt (polnisch Wschowa), die der dort als Hauslehrer arbeitende Theologiestudent Carl König 1724 an August Hermann Francke und etwas später, zwischen 1732 und 1739, der lutherische Pfarrer Samuel Jancovius an Gotthilf August Francke richteten.
Diese Briefe boten spannende Einblicke in den Alltag in der polnischen Stadt vor knapp 300 Jahren und deren Verbindung zu allgemeinen Entwicklungen der Zeit. So beschreibt der Student König seine Begegnungen mit den Schriften Franckes bei einem Tuchmacher in Fraustadt und einem Barbier in Lissa (polnisch Leszno) sowie seinen Streit mit dem Diakon der lutherisch-evangelischen Kirche in Fraustadt, dem sogenannten Kripplein Christi. Zugleich bot er an, über die Ereignisse in Thorn (polnisch Toruń) nach dem dortigen Tumult von 1724 zu berichten. Pfarrer Jancovius erörtert die schwierige Situation der lutherischen GemeindE seit die Jesuiten die Pfarrkirche der Stadt übernommen und ein Kolleg in der Stadt gegründet hatten und beklagt den Streit in der Gemeinde angesichts der Ausbreitung pietistischer Frömmigkeit. Besonders eindrucksvoll ist seine Schilderung des Mordes an einem Professor des Jesuitenkollegs durch dessen Studenten, dem daraufhin die Flucht in das Bernhardinerkloster gelang. Dies führte zu harten Sanktionen gegen die eigentlich ganz unbeteiligte lutherische Gemeinde.
Die Briefe spannten damit eine Brücke zwischen Halle und Fraustadt/Wschowa im 18. Jahrhundert. Eine großzügige Förderung durch das Kulturreferat ermöglichte es, dass wir im Oktober 2015 zum Absendeort der Briefe und zu den beschriebenen Originalschauplätzen reisen konnten. Im Rahmen einer Tagung zum regionalen geistlichen Leben, veranstaltet vom Museum des Fraustädter Landes Wschowa und dem Stadtmuseum Leszno, konnte ich zunächst einige Ergebnisse der Quellenlektüre einem größeren Publikum vorstellen. Die Studierenden reisten leider aufgrund eines Zugausfalls verspätet an, so dass sie an der Tagung nicht mehr teilnehmen konnten. Umso dichter war das Programm am nächsten Tag.
Zunächst wurden wir von der Direktorin des örtlichen Museums Marta Małkus durch die Stadt geführt und hatten Gelegenheit zur Besichtigung der ehemaligen Jesuitenkirche, des Bernhardinerklosters, des heute als Lapidarium erhaltenen ehemaligen evangelischen Friedhofes und der ehemaligen evangelischen Kirche, des Kripplein Christi. Deren Innenräume sind zwar weitgehend zerstört, weckten aber dennoch Erinnerungen an die in der Übung gelesenen Briefe.
Die Studentin Jill-Francis Käthlitz bemerkte dazu: "Das Innere des Kripplein Christi bot einen düsteren, man möchte sagen trostlosen Anblick, abgesehen davon, dass die dreistöckigen Emporen trotz ihres schlechten Zustands immer noch etwas Eindrucksvolles an sich hatten. Eindrucksvoll war für uns aber vor allem, dass wir dank des Quellenstudiums aus unserem Seminar die staubige Leere dieser ehemaligen Kirche mit lebendiger Imagination füllen konnten! Hier haben die Verfasser der uns bekannten "frommen Briefe" ihre Predigten gehalten, hier haben sich zwischen rivalisierenden Geistlichen mit unterschiedlichen Frömmigkeitsidealen Szenen abgespielt, die uns beim Lesen regelrecht zum Lachen gebracht haben. Durch dieses sehr spezielle Vorwissen erschloss sich uns dieser Ort auf eine ganz einmalige Weise."
Student Robert Scholz merkte an: "Es war folgerichtig, nach der Arbeit an den Quellen nun endlich auch hautnah die Schauplätze des Geschehens kennenzulernen. Zwar vermittelten die Briefe bereits lebendig, wie man sich die Stimmung im Fraustadt des 18. Jahrhunderts vorstellen könnte, aber selbst die Vielzahl der Kirchen vor sich zu sehen erweiterte diesen Eindruck ganz entscheidend."
Anschließend beteiligten wir uns am Pflanzen von Krokussen vor dem Kripplein Christi. Bei dieser, von dem lokalen Förderverein Czas A.R.T. organisierten Aktion, war auch das Lokalfernsehen zugegen (http://zw.pl/krokusy-dla-zlobka/). Am Nachmittag ging es weiter in das in der Nähe gelegene Leszno (Lissa), wo das Stadtmuseum eine Sonderführung organisiert hatte. Beim anschließenden Stadtrundgang ließ die Vielzahl der Gotteshäuser in der relativ kleinen Stadt die religiöse Vielfalt erahnen, die diese in dieser einst geherrscht hatte. Im von religiösen und konfessionellen Konflikten geprägten 18. Jahrhundert lebten hier Böhmische Brüder, Lutheraner, Katholiken und Juden auf engstem Raum nebeneinander und fanden stets neue Kompromisse, die gegenseitiges Tolerieren möglich machten.
Vor der Abreise am nächsten Tag blieb noch Zeit zu einer Besichtigung der Altstadt von Poznań, dem damaligen und heutigen Zentrum der Region.
Noch einmal Robert Scholz: "Poznań macht es einem leicht, in die Zeit von vor nun fast dreihundert Jahren einzutauchen. Gleichzeitig sieht man aber auch an vielen Stellen, wie progressiv diese Stadt ist. Der neue riesige Hauptbahnhof oder die Gebäude der Musikakademie ergeben dabei einen gesunden visuellen Gegensatz zur historischen Altstadt. Diese Vielfältigkeit beflügelte den Entschluss, erneut in die Universitätsstadt zu reisen, jedoch mit mehr Zeit im Rucksack."
Auch wenn die Zeit insgesamt kurz bemessen war, veranschaulichte der Besuch doch die bleibenden Spuren historischen Geschehens. Eindrucksvoll war vor allem das begeisterte Engagement mit dem diese in Wschowa und Leszno institutionell aber auch durch bürgerschaftliche Initiativen gepflegt werden. Die Tuchmacherwerkstatt und den Barbierladen, in denen Carl König in den 1720er-Jahren auf die Schriften Franckes gestoßen war, haben wir zwar nicht gefunden, aber immerhin konnten wir die Mauer mit einiger Wahrscheinlichkeit bestimmen, über die sich der Professorenmörder in den 1730er-Jahren zu den Bernhardinern gerettet hatte. Eine Exkursion ist leider keine Zeitreise, aber sie kann uns verstehen helfen, dass polnische Städte wie Leszno und Wschowa historisch enger mit dem Studienort Halle verbunden waren, als es angesichts der heutigen verhältnismäßig langen Reisezeit manchmal den Anschein hat. Zu danken ist abschließend noch einmal dem Kulturreferat des Bundes für Westpreußen, das diese Sammlung von Eindrücken möglich gemacht hat.
Autor: Karsten Holste
Einen Bericht über diese Exkurion von Jill-Francis Käthlitz finden Sie hier: http://grenzenlos.polen-pl.eu/allgemein/unterwegs-auf-frommen-spuren