Blockseminar und Exkursion des Masters Interdisziplinäre Polenstudien in Toruń, 6. bis 13. November 2024
Eine kühle, aber spannende Novemberwoche verbrachten Studierende der Interdisziplinären Polenstudien sowie verwandter Studiengänge, begleitet von Dozentinnen und Dozenten des Aleksander-Brückner-Zentrums für Polenstudien an der MLU Halle und FSU Jena in Toruń/Thorn an der Weichsel in der Woiwodschaft Kujawien-Pommern.
Mit seiner abwechslungsreichen Geschichte – gegründet vom Deutschen Orden, zur Hansestadt geworden, dann ethnisch und konfessionell gemischte Stadt im Königreich Polen, seit 1773 an der Grenze zum Königreich Preußen, 1793 von Preußen annektiert, 1807 an das napoleonische Herzogtum Warschau, 1813 russisch besetzt, auf dem Wiener Kongress wieder an Preußen, Festungsstadt – die Festung trennte die Innenstadt deutlich von den Vorstädten –, Zuzug von Deutschen, Zuzug von Polen, Germanisierungsbemühungen in Preußen, 1920 an Polen, mit folgender Polonisierung – bietet Thorn / Toruń reichlich Material für ein Seminar mit Titel »Identitätskonstruktionen: Symbole – Rituale – Jubiläen«, zumal wenn der Unabhängigkeitstag am 11. November zum Seminar gehört und man ihn mit Fragebogen ausgestattet teilnehmend beobachten (oder beobachtend teilnehmen?) kann. Das Seminar wurde gemeinsam mit Dozenten der Nikolaus-Kopernikus-Universität gestaltet.
Erster Exkursionsgegenstand war für viele der WARS-Speisewagen auf der Hinfahrt, wo erste Spezialitäten polnischer Küche wie Pierogi und Żurek gekostet werden konnten. Untergekommen ist die Gruppe für sieben Nächte im Universitätshotel, das uns teilweise als Seminarort diente.
Am nächsten Morgen bereiteten sich die jeweiligen disziplinären Gruppen vor: Die Gruppe Ethnologie beschäftigte sich mit dem Deutschen Orden als Identitätselement zwischen Feindschaft und Bezug auf ihn als Stadtgründer, die Gruppe Geschichte, bewaffnet mit Quellen, Plänen und Statistiken, mit der Geschichte Polens, insbesondere der Verfassungsgeschichte, und Geschichte Thorns von der napoleonischen Zeit bis zum Zweiten Weltkrieg. Die Gruppe Literaturwissenschaft war mit dem Wirken, Werken und Biografien der Dichtergruppe Skamander aus der Zwischenkriegszeit befasst und die Gruppe Sprachwissenschaft widmete sich der Mehrsprachigkeit und ihren Implikationen für die Gesellschaft.
An dem Tag war außerdem ein weiterer fester Punkt jeder Exkursion geplant: das Kooperationstreffen mit Thorner Studierenden, die sich in unterschiedlichen disziplinären studentischen Kreisen (studenckie koło naukowe) wie etwa dem Juristischen Studentenkreis oder Kreis der Geschichtsstudierenden an der Nikolaus-Kopernikus-Universität engagieren. Ort zum gegenseitigen Kennenlernen und einem regen Austausch bot uns zunächst das Café Wejściówka. Zum Abendessen wurden in einem der lokalen Restaurants Pierogi verkostet. Hier konnte man die regen Debatten über regionales, lokales und mitteleuropäisches Essen und Trinken fortsetzen.
Am Freitag, dem 8. November, waren wir schon zur frühen Morgenstunde auf dem Campus, wo der historische Block unter der Leitung von Prof. Yvonne Kleinmann und unter Mitwirkung der Thorner Rechtshistorikerin Prof. Anna Tarnowska bei den Juristen zu Gast war. Thema des Blocks war »Die ›Wiedergeburt‹ Polens 1918: Historische Transformationszeit und Gegenstand der Erinnerungskultur«. Am Nachmittag ging es weiter: unter der Leitung von Dr. Ewa Krauß fand der literaturwissenschaftliche Block mit dem Thema »Identitätskonstruktion in der Literatur der Skamandryci« statt. Für Auflockerung sorgte hierbei ein Theaterworkshop mit Aufwärm- und Improvisationsübungen, bei dem auch die Namen der wichtigsten Skamander-Dichter fleißig geübt wurden.
Am Samstagvormittag waren wir mit den sprachwissenschaftlichen Perspektiven beschäftigt und nahmen am Block von Prof. Ruprecht von Waldenfels zum Thema »Mehrsprachigkeit, Migration und Identität« teil. Die Innenstadt brachte uns auf einer detaillierten historischen Stadtführung Prof. Bogusław Dybaś – Neuzeithistoriker mit einem enormen Wissen rund um die Geschichte Thorns – nahe.
Den freien Teil des Sonntags nutzten einige Studierende auch dafür, mit Andrei Lysou, Geschichtsstudent in Thorn, den Gedenkort Barbarka zu besuchen. Dieser Punkt im Programm erwuchs spontan beim Austausch der Studierenden aus Deutschland mit den polnischen Kommilitoninnen und Kommilitonen im Rahmen des Kooperationstreffens. Der Gedenkort für die Hinrichtung der polnischen Opfer durch das NS- Regime im Jahr 1939 ist eine Gedenkstätte beim Örtchen Barbarka im Wald nördlich Thorns, die wir trotz eines kleinen Irrmarsches durch den Wald gut erreichten.
Ein stellenweise etwas kurioses Zeugnis der 1970er Jahre und nicht unbedingt Kandidat für den ›authentischsten Historienfilm des Jahres‹ war der Film »Copernicus« (»Kopernik«, PL 1973) des Regis¬seurpaares Czesław und Ewa Petelscy, dessen deutsche Fassung bei der DEFA-Stiftung besorgt wurde. Einführend zu dem Film präsentierte Dr. Iwona Dadej die Bilder des Nikolaus Kopernikus in der Geschichte, den sowohl Deutsche als auch Polen gerne für sich beanspruchen. Sein Bild ist in Thorn allgegenwärtig, selbst auf die Altarwand des vor einigen Jahren westlich der Stadt neugebauten »Sanktuariums der seligen Jungfrau Maria, Stern der Neuevangeli-sierung, und des hl. Johannes Paul II.« hat er es geschafft. Auch ein traditioneller Lebkuchenher-steller heißt Kopernik. Pierniki toruńskie verschiedener Marken sind als offenbar wichtigstes Exportgut der Stadt in geschätzt jedem dritten Haus der Altstadt zu kaufen. Hinsichtlich der besten Sorte berieten uns auch die Dozentinnen und Dozenten der Nikolaus-Kopernikus-Universität.
Am Montag, dem 11. November – dem Unabhängigkeitstag Polens – zogen die Studierenden durch die Stadt. Die Teilnehmerinnen und Teilnehmer besuchten jeweils unterschiedliche Programmpunkte, um teilnehmend zu beobachten und beobachtend teilzunehmen. Zu beobachten gab es zwei eher spärlich besuchte Blumenniederlegungen – eine für die Gefallenen der Jahre 1918–1921 sowie eine für General Józef Haller. Bis auf den letzten Stehplatz gefüllt war dagegen die Festmesse in der von den Preußen erbauten Garnisonkirche St. Katharina, deren vielfältige Teilnehmerinnen und Teilnehmer neben den Soldatinnen und Soldaten manchen durchaus überraschen könnten: Ein nigerianischer Bischof konzelebrierte als Ehrengast, als Gäste aus der Ökumene feierten ein orthodoxer und ein evangelisch-augsburgischer (lutherischer) Pfarrer gut sichtbar im Altarraum mit und sprachen auch je ein eigenes Gebet. Liberalpatriotischer Tenor war dem Vernehmen nach die Freude über die Freiheit für sich und die damit verbundene Verantwortung für die Freiheit für andere. Viele Menschen zogen in einem teils historischen Umzug zum Marktplatz, bei dem das Militär sehr präsent war. Am Abend fanden die Auswertungsrunde und Gespräche mit Prof. Tarnowska und Prof. Kleinmann zum Nationalfeiertag statt.
Am Dienstag waren wir erneut am Uni-Campus und bestritten den ethnographischen Block »Städtische und nichtstädtische Elemente zur Gestaltung der lokalen und regionalen Identität von Toruń und der Umgebung« unter der Leitung von Dr. Joanna Książek, einer wissenschaftlichen Mitarbeiterin der Universität. Letzter offizieller Programmpunkt war ein Besuch des Freiluftteils des Ethnographischen Museums mit translozierten ländlichen Häusern aus der Region. Da Dienstag der letzte Tag vor der Abreise war, gingen viele von uns noch abends in eine vegetarische Kneipe, deren es in Polen viele gibt.
Während des gesamten Blockseminars fand sich neben dem offiziellen Programm je nach Interessenslage auch freie Zeit für Besuche von Konditoreien zum Erwerb gehaltvoller (Martins-)Hörnchen, von Cafés zur Wärmung bei Glühwein, von Weinbars, vegetarischen Milchbars und Imbissfenstern, für Teilnahme an Fußballspielen und Gottesdiensten, für genauere Besichtigungen der Kirchen mit vielfältiger historischer Ausstattung aus mehreren Epochen und Konfessionen oder auch des schon benannten, erst vor einigen Jahren auf Betreiben des berühmt-berüchtigten Redemptoristenpaters Tadeusz Rydzyk errichteten »Sanktuariums der seligen Jungfrau Maria, Stern der Neuevangelisierung, und des hl. Johannes Paul II.« oder des diözesanen Kunstmuseums.
Das Einführungsseminar in Toruń bot sowohl für Studierende der Polenstudien als auch anderer, benachbarter Fächer die einmalige Möglichkeit, eine Woche lang Polen in einem vielschichtigen Format intensiv kennenzulernen: seine turbulente, verflochtene Geschichte, seine nicht immer leichte Sprache, seine vielseitige Kultur, seine Köstlichkeiten sowie einfach die Thorner Novemberatmosphäre.
Ein besonderer Dank gilt dem DAAD, der die Exkursion großzügig finanziell unterstützt hat.
Text: Simon Scharfenberger, Student des Masters Geschichte und Kunstgeschichte an der MLU Halle


Die Exkursion wurde gefördert vom DAAD
